März 2021

DIENSTAG, 02.03.2021 – Frankfurter Allgemeine Zeitung

2 + 2 nicht gleich 4

In den Vereinigten Staaten soll Mathematik nicht mehr rein objektiv, sondern ein Zeichen „weißer Vorherrschaft“ sein.
Von Christiane Heil, Los Angeles

Den Anfang machte Brittany Marshall. „Die Idee von 2 + 2 nicht gleich 4 hat kulturelle Gründe. Als Folge von westlichem Imperialismus/Kolonisierung halten wir sie für das einzig Richtige“, twitterte die Studentin der Rutgers-Universität im vergangenen Sommer – und brach in den Vereinigten Staaten die Debatte über Mathematik, Hautfarbe und Herkunft los. Marshall, laut ihrem Profil Lehrerin, Kämpferin für sozialen Wandel und Anhängerin der Bewegung „Black Lives Matter“, machte öffentlich, was nur gelegentlich und verhalten in Schulverwaltungen und bei Bildungskonferenzen diskutiert wurde: die These, dass nichtweiße Schüler in Mathematik benachteiligt würden, da sich das Fach auf westliche Werte stütze.

Wie erwartet, wurde Marshall in sozialen Medien von Verrissen eingeholt. Viele Amerikaner warfen ihr Naivität und Kurzsichtigkeit vor, andere den Versuch, Mathematikunterricht in Zeiten von Identitätspolitik zu instrumentalisieren. „Es geht hier um Mathe, nicht um Geschichte“, mahnte die konservative Journalistin Paula Bolyard. „Mathe lügt nicht. Sie ändert sich auch nicht durch politische Strömungen oder eigene Gefühle. Die iPhones, auf denen ihr eure Tweets tippt, funktionieren nach dem binären System – Einsen und Nullen, nicht Fünfen oder Viertausender.“

„Ethnomathematik“-Kurs für Lehrer

Zumindest in Oregon schien die Warnung zunächst nicht angekommen zu sein. Das Kultusministerium des Pazifikstaats forderte seine Lehrer auf, sich in einem Kursus für „Ethnomathematik“ weiterzubilden. Der Bildungstrend, so der Rundbrief, gehe davon aus, dass der Fokus auf das korrekte Resultat im Mathematikunterricht ein Zeichen „weißer Vorherrschaft“ sei. Ein Ziel der Fortbildung solle daher sein, für jede Aufgabe mindestens zwei Ergebnisse zu erarbeiten. Auch das Vorführen von Rechenwegen durch die Schüler vertrage sich nicht länger mit den Vorstellungen des Kultusministeriums in Portland. Es sei ein Signal für die Infiltration des Klassenzimmers mit „White Supremacy Culture“.

„Das Konzept, dass Mathematik rein objektiv ist, ist eindeutig falsch. An der Idee festzuhalten, dass es immer richtige und falsche Antworten gibt, schreibt diese Objektivität und die Furcht vor offenem Konflikt fort“ – mit diesen Worten warf das Department of Education den bisherigen Ansatz über den Haufen. Auch Objektivität, heißt es in dem Begleitbuch zur neuen Lehrmethode unter dem Titel „Abbau von Rassismus“, sei ein charakteristisches Zeichen für „weiße Vorherrschaft“.

Abschaffung von Algebra gefordert

Kritiker werten den bizarren Vorstoß als Versuch, die „Leistungslücke“ zwischen afroamerikanischen sowie hispanischstämmigen Schülern und weißen Jugendlichen zu kaschieren. Eine Studie der Denkfabrik Brookings Institution zeigte im vergangenen Dezember ein weiteres Mal, dass das „Achievement Gap“ im Fach Mathematik besonders groß ist. Bei dem standardisierten Test SAT, in den Vereinigten Staaten vor knapp 100 Jahren eingeführt, um Absolventen der Highschools unabhängig von sozialem Status den Weg zu Universität und Stipendien zu ermöglichen, blieben Schwarze und Latinos zurück. Für den Jahrgang 2020 errechnete die Brookings Institution für die etwa 2,1 Millionen Schulabgänger beim Mathematik-Teil des Tests durchschnittlich 523 von möglichen 800 Punkten. Afroamerikanische Absolventen erreichten durchschnittlich 454 Punkte, ihre hispanischstämmigen Mitschüler 478 Punkte. Weiße schlossen die Highschool dagegen mit einem Durchschnittswert von 547 Punkten ab, Schüler mit asiatischen Wurzeln brachten es auf 632 Punkte. Die Denkfabrik verwies aber auf langsame, stetige Fortschritte: Die Leistungslücke hat sich in den vergangenen Jahren verkleinert, 2020 nahmen mehr als zweimal so viele afroamerikanische Schüler an SAT-Prüfungen teil wie im Jahr 2000.

Der Trend hält einige amerikanische Pädagogen aber nicht davon ab, der Einfachheit halber die Abschaffung von Algebra zu fordern. „Algebra ist eine der höchsten Hürden für Schulabschluss oder Bachelor, besonders für nichtweiße Schüler und Studenten. Wenn man sich nicht auf eines der Mint-Fächer Mathematik, Technologie oder Ingenieur- und Naturwissenschaften konzentrieren möchte, warum überhaupt Algebra lernen?“, fragten sie in einer Diskussionsrunde des Senders NPR.

„Lächerlich“ und „sonderbar“

Der britische Publizist Douglas Murray schreibt den sogenannten Krieg gegen die Mathematik gesellschaftspolitischen Strömungen zu. Als der Schulbezirk Seattle im Bundesstaat Washington vor zwei Jahren ansetzte, den Unterricht zu „entkolonialisieren“ und Mathematik durch Programme wie Unterwasserrobotik, Streetart und Genderstudien zu ergänzen, warf er den amerikanischen Pädagogen vor, sich der Woke-Kultur zu beugen. Der Trend, Probleme grundsätzlich unter dem Vorzeichen von Rassismus zu interpretieren, habe in den Vereinigten Staaten längst das Ausmaß einer betäubenden Orthodoxie erreicht. Murrays Aufschrei machte sich unter anderem an Fragen fest wie „Auf welche Weise kann man Mathematik nutzen, um die Stärke von Aktivismus zu messen?“, die die Schulverwaltung in Seattle für den neuen Unterricht vorschlug. „Natürlich ist in dieser Welt nichts wichtiger, als sich mit Aktivismus zu beschäftigen“, merkte der Publizist sarkastisch an.

Auch im liberalen Oregon scheint das geplante Curriculum weniger Anhänger zu haben als erwartet. Allen Alley, ehemaliger Vorsitzender der Republikanischen Partei im Beaver State, nannte die Verbindung von Mathematik und weißer Vorherrschaft „lächerlich“. Die demokratische Abgeordnete Janelle Bynum monierte die „sonderbare Richtung“ des vorgeschlagenen Mathematikunterrichts, regte aber „Experimente“ an. Wie diese Experimente aussehen könnten, blieb offen: Der virtuelle Kursus „Weg zur Mathematik-Gerechtigkeit 2.0“, die Einführung für die Lehrer in Oregon, wurde kurzfristig gestrichen.