Juni 2018

SONNTAG, 17.06.2018 – F.A.S. – POLITIK

Straftatbestand Wahrheit

Der frühere Chef von Griechenlands Statistikbehörde ist zu zwei Jahren Haft verurteilt worden – weil er ehrlich war. Von Michael Martens

Erinnert sich noch wer an den Beginn der griechischen Krise – damals, im Herbst 2009? An diesem Beginn standen gefälschte Statistiken. Ein Haushaltsdefizit im Umfang von 3,7 Prozent der griechischen Jahreswirtschaftsleistung hatte die abgewählte Regierung des konservativen Ministerpräsidenten Kostas Karamanlis an die europäische Statistikbehörde Eurostat gemeldet. Nicht schön, aber auch kein Drama. Griechenland hatte die für Mitglieder der Eurozone vorgesehene Obergrenze von drei Prozent um 0,7 Prozentpunkte überzogen, na und? Kommt in den besten Familien vor. Deutschland und Frankreich hatten schon größere Defizite ausgewiesen.

Doch bei 3,7 Prozent blieb es nicht. Als die im Oktober 2009 gewählte Regierung von Ministerpräsident Giorgios Papandreou und seinem Finanzminister Giorgios Papakonstantinou die ihr hinterlassenen Bücher prüfte, stieß sie auf ein Ausmaß von kreativer Buchführung, das selbst für griechische Verhältnisse kaum glaublich war. Getrickst hatten Athener Regierungen immer schon bei der Erstellung ihrer Haushaltsdaten, doch in den letzten Jahren der Regierung Karamanlis ließen die hellenischen Zahlenzauberer jegliche Zurückhaltung fallen. Mit exakten Wissenschaften hatten die offiziellen griechischen Haushaltsdaten in dieser Zeit nichts mehr zu tun. Sie fielen eher in den Bereich der schönen Künste. Damals kam der Spruch auf, es gebe Lügen, verdammte Lügen und griechische Statistiken.

Nach und nach musste die neue Regierung aktualisierte Haushaltsdaten für das Jahr 2009 an Eurostat melden. Nach ersten Nachberechnungen betrug das Defizit 12,5 Prozent. Dann wurde es nochmals nach oben korrigiert: auf 13,6 Prozent. Das war nun keine Kleinigkeit mehr, zumal Überprüfungen ergaben, dass Griechenland auch jene Statistiken gefälscht hatte, die 2001 überhaupt erst zur Aufnahme des Landes in die Eurozone geführt hatten. So rutschte Griechenland in die Schuldenkrise und bedrohte zeitweilig die Existenz des Euros. In den anderen Hauptstädten des Währungsraums herrschte Wut auf Athen. Die Geldgeber verlangten von der neuen Regierung, endlich eine glaubwürdige Statistikbehörde einzurichten. Eine, die nicht mehr wie zuvor der Kontrolle des Finanzministeriums unterstand.

Bei Finanzminister Papakonstantinou rannten die Europäer damit offene Türen ein. Er wollte sein Land wirklich reformieren und war dafür selbst auf zuverlässige Daten angewiesen. So entstand im Sommer 2010 die neue hellenische Statistikbehörde Elstat, die nicht mehr einem Minister, sondern dem Parlament berichtspflichtig ist. Bei der Suche nach einem international anerkannten Fachmann als Chef für die neue Behörde stieß die griechische Regierung auf Andreas Georgiou in Washington. Der war zwar in Griechenland geboren, hatte aber fast sein ganzes Leben im Ausland verbracht und war mit dem Athener Klüngel nicht verbandelt. Georgiou hatte Wirtschaftswissenschaften in den Vereinigten Staaten studiert und 21 Jahre für den Internationalen Währungsfonds gearbeitet, unter anderem als stellvertretender Chef von dessen Statistikabteilung. Obwohl Freunde ihn warnten, gab er seinen gutbezahlten Job in Washington auf und folgte dem Ruf Papakonstantinous nach Athen, um dort die erste unabhängige Statistikagentur in der Geschichte Griechenlands aufzubauen. Am 2. August 2010 trat er seinen Posten an. Er ahnte nicht, dass ihm ein Höllenritt bevorstand.

Der vorläufige Tiefpunkt wurde in der vergangenen Woche erreicht. Da bestätigte der Oberste Gerichtshof in Athen in letzter Instanz eine im Vorjahr gegen Georgiou verhängte Haftstrafe von zwei Jahren wegen Amtspflichtverletzung. Die Strafe ist zur Bewährung ausgesetzt, doch da weitere Fälle gegen ihn laufen, könnte sie nachträglich noch wirksam werden. Auf jeden Fall ist Georgiou in Griechenland durch den nunmehr endgültigen Schuldspruch ein rechtskräftig verurteilter Krimineller. Doch für was wurde er verurteilt? Wollte man seinen seit Jahren durch die Instanzen mäandernden Fall sowie das abschließende Urteil in einem Satz zusammenfassen, könnte der lauten: Andreas Georgiou wurde für schuldig befunden, die Wahrheit gesagt zu haben.

Die Verurteilung bezieht sich auf eine Begebenheit ganz zu Beginn von Georgious Tätigkeit in Athen. Das Defizit für 2009 war schon auf 13,6 Prozent korrigiert worden, als Georgiou noch einmal nachrechnen ließ und auf weitere Fehler bei der Datenerhebung stieß. Das tatsächliche Defizit für das budgetäre Katastrophenjahr lag sogar bei enormen 15,4 Prozent. Das stand im November 2010 fest, drei Monate nach Georgious Amtsantritt. Der Statistikchef wollte diesen europäischen Minusrekord an Eurostat melden, stieß aber auf Widerstand im Aufsichtsrat von Elstat. Dessen Mitglieder verlangten eine Abstimmung über die von Georgiou angewandte Methode und deren Ergebnisse. Doch Georgiou hatte sich, wie Eurostat später bestätigte, als erster Athener Statistikchef exakt an die europäisch vorgeschriebenen Methoden zur Erhebung statistischer Daten gehalten. Er sah nicht ein, warum er darüber abstimmen lassen sollte, ob eine griechische Statistikbehörde sich erstmals in ihrer Geschichte regelkonform verhalten dürfe. Erst recht sprachlos machte ihn das Ansinnen, über die Ergebnisse der Erhebungen abstimmen zu lassen. Der Wissenschaftler wies das als absurd zurück. „Über Zahlen gibt es keine Abstimmung. Sie sind entweder richtig oder falsch“, hielt er dem Gremium vor. Er ignorierte alle Einwände und meldete die Zahlen an Eurostat.

Das war der Moment, in dem Georgiou für die politische Kaste in Athen zu einem idealen Sündenbock wurde. Eine griechische Dolchstoßlegende entstand: Griechenland sei eigentlich gar nicht überschuldet gewesen, doch Georgiou, ein Knecht der Deutschen und des Währungsfonds, habe das Defizit von 2009 künstlich hochgerechnet. Sein Ziel sei es von Anfang an gewesen, die Griechen in die Schuldknechtschaft der ausländischen Finanzaufseher zu treiben. Eine Legende, mit der die wirklich Schuldigen ihr jahrzehntelanges lügenhaftes Versagen verschleiern konnten. In Athen begann eine Hexenjagd. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss wurde eingesetzt, Politiker schossen sich auf Georgiou ein. Die Oppositionsführer Antonis Samaras und Alexis Tsipras, die später nacheinander Regierungschefs Griechenlands werden sollten, griffen Georgiou öffentlich an. Tsipras versprach seinen Anhängern, er werde als Ministerpräsident untersuchen lassen, warum die Statistikbehörde Griechenland absichtlich „ins Auge des Hurrikans“ gesteuert habe. In dieser Zeit begriff Georgiou, dass Statistik in Griechenland nicht etwa ein nüchternes Gewebe aus Ziffern und Datenkolonnen ist, sondern ein Kampfsport. So hat er es im November 2011 einer Reporterin der „Financial Times“ gesagt. Da hatten längst Ermittlungen gegen ihn begonnen. Denn die Hexenjäger aus der Politik fanden Verbündete in der Justiz. Die Staatsanwaltschaft stützte sich auf Aussagen von ehemaligen Elstat-Mitarbeitern und forderte eine lebenslange Haftstrafe für Georgiou. Zu den Wortführern der Ankläger gehörte die griechische Statistikerin Zoe Georganta. Sie hatte im Elstat-Aufsichtsrat gesessen, war aber entlassen worden. Nun übte sie Rache. „Wir haben eine neue Art von Besatzung in Europa – durch die Deutschen“, sagte sie in einem Radiointerview, in dem sie auch zu erkennen gab, dass sie Georgiou für eine Marionette Berlins halte. Unter seiner Führung sei das Defizit aufgeblasen worden, um Griechenland eine schmerzhafte Austeritätspolitik aufzuzwingen.

Eine Flut von Anklagen rollte nun auf Georgiou zu. Eine „Verschwörung gegen den Staat“ wurde ihm vorgeworfen. Als Georgiou in einer Pressemitteilung darauf hinwies, wie seltsam es sei, dass er angeklagt werde, nicht aber diejenigen, die für die nachweislich falschen Statistiken früherer Jahre verantwortlich seien, kam die Verleumdungsklage eines früheren Athener Chefstatistikers hinzu. Georgiou wurde der üblen Nachrede für schuldig befunden und zu einer Geldstrafe von 10000 Euro verurteilt. Außerdem erlegten ihm die Richter auf, in einer großen griechischen Zeitung auf eigene Kosten eine Anzeige zu schalten, in der er seine Darstellung „korrigieren“ müsse. Nachdem Georgiou Berufung eingelegt hat, soll das endgültige Urteil im Oktober ergehen. Die aberwitzigste Anschuldigung in dieser juristischen Saga stammt aus der Feder einer Frau namens Xeni Dimitriou. Die von Ministerpräsident Tsipras ernannte Generalstaatsanwältin hat sich als besonders emsige Georgiou-Verfolgerin hervorgetan. Sie fordert eine lebenslange Haftstrafe für ihn, da er Griechenland durch seine Statistiken einen Schaden von mehr als 170 Milliarden Euro zugefügt habe.

Zwar gab es in den vergangenen Jahren immer wieder Richter, die Verfahren gegen Georgiou aus Mangel an Beweisen einstellten, oder Staatsanwälte, die sie gar nicht erst beginnen ließen. Doch zuverlässig traten dann Frau Dimitriou oder andere Staatsanwälte auf den Plan, um mit anderen Begründungen neue Prozesse in Gang zu bringen oder alte neu aufzunehmen. Auch der Umstand, dass die parlamentarische Untersuchungskommission Georgiou kein Fehlverhalten nachweisen konnte, hat wenig geändert. Verschwörungstheorien sind stärker als Fakten. Weil Gerichte Fakten aber nicht vollkommen ignorieren können, ist Georgiou bis heute nicht für seine Arbeit als Statistiker verurteilt worden. Seine Statistiken sind nie widerlegt worden, im Gegenteil. Die EU-Kommission hat schriftlich bestätigt: „Für die Kommission und Eurostat steht eindeutig fest, dass die Daten zur Staatsverschuldung der griechischen Regierung für den Zeitraum 2010–2015 Eurostat uneingeschränkt zuverlässig und korrekt übermittelt wurden.“ Das waren die Jahre, als Georgiou Elstat führte. Die rechtsgültige Verurteilung der vergangenen Woche kann sich deshalb nur auf einen angeblichen Formfehler stützen. Gerügt wird, Georgiou habe den Aufsichtsrat Ende 2010 nicht ordnungsgemäß davon in Kenntnis gesetzt, dass er die neuen Defizitzahlen an Eurostat weitergeleitet habe. Er wurde also nicht verurteilt für seine Feststellung, dass zwei plus zwei vier sei, sondern dafür, dass er diese Erkenntnis ohne Genehmigung ins Ausland übermittelte. Dafür sind zwei Jahre Haft eine bemerkenswerte Strafe.

Ist Georgiou also ein Opfer der Rachegelüste von Griechenlands Ministerpräsident Tsipras? Vieles scheint darauf hinzudeuten, doch tatsächlich spricht seit mindestens einem Jahr einiges gegen diese Annahme. Als Oppositionsführer und auch in seiner Anfangszeit im Regierungsamt gehörte Tsipras tatsächlich zu den eifrigsten Jägern des integren Statistikers Georgiou, doch das ist nicht mehr so. Inzwischen hat die Athener Regierung die Verlässlichkeit von Georgious Arbeit sogar mehrfach gelobt. Im vergangenen August sagte der griechische Finanzminister Euklid Tsakalotos, die Qualität seiner Statistiken werde „von niemandem in Frage gestellt, zuallerletzt von der griechischen Regierung“. Auffällig ist auch, dass sich Tsipras und andere Politiker aus dem regierenden Linksbündnis oft explizit auf Georgious Zahlen beziehen, wenn sie die Erfolge ihrer Reformpolitik verdeutlichen wollen. Den Haushaltsüberschuss rühmend, den Athen mittlerweile erwirtschaftet, verweisen sie auf das anfängliche Minus von mehr als 15 Prozent, um zu dokumentieren, wie eindrucksvoll der Weg sei, den Griechenland seither zurückgelegt habe. „Der Fall Georgiou wird längst als peinliche Belastung für die Regierung gesehen, die aber natürlich in die laufenden Prozesse nicht eingreifen kann“, sagt ein Kenner des Landes. Für Georgiou, der mittlerweile wieder in Washington lebt, ist das freilich nur ein schwacher Trost.